Ghost

Skeletá

Loma Vista
VÖ: 2025

Melodien ohne Abgründe

Die Erkenntnis, mit einem neuen Album das wohl perfekte Musikwerk geschaffen zu haben, dürfte der Augenblick sein, den selbst mit stählernem Selbstbewusstsein gesegnete Künstler gleichermaßen fürchten wie sie ihm entgegenarbeiten. Tobias Forge dürfte diesen Moment mit der Fertigstellung des letzten Ghost-Albums Impera (2022) erlebt haben. Die Antwort auf die sich irgendwann aufdrängende Frage nach dem Danach fand er in der konzeptionellen Herangehensweise, die er sich selbst und seinem nun schon mehrfach bewährten Songwriter-Team für den Nachfolger mit auf den Weg gab: Anstelle eines bedeutungsschweren thematischen Überbaus mit bildreicher Gesellschafts- und Strukturkritik lässt er das sechste vollwertige Ghost-Album von einem sehr menschlichen Faktor durchfließen und schrieb dafür Stücke entlang der großen Gefühle, die unser irdisches Dasein begleiten. Liebe, Hass und Hoffnung macht Forge in der Maske des neu erfundenen Papa V Perpetua zum Thema der Lieder, genauso aber Bedauern, Versuchung, Glauben, Zerrissenheit und den Tod. Musikalisch gibt es auf Skeletá durchaus Parallelen zu Impera — allerdings auch Unterschiede, die das neue Album in seiner Wirkungsgesamtheit etwas weniger spannend, monumental und überwältigend strahlen lassen. Skeletá eine gewisse Gleichförmigkeit zu attestieren, wird dem Album nicht gerecht. Dennoch fehlen die tiefen Abgründe, in die man auf dem Vorgänger immer wieder gestoßen wurde. Stattdessen überrollt einen eine einzige Welle der wunderbarer Melodien, die in einer fabelhaften Produktion umspülen, in der Synthies, Hall und anderes Produzentenbesteck der Achtziger unterkühlte Klangtiefe schaffen.

Spannend ist ›Lachryma‹, das unheilvoll sägende Mercyful Fate-Gitarrenriffs in petto hat — und eine kühle Schaueratmosphäre, die durch die in sakral-monotoner Stimmlage und fast hypnotisierend gesungene Strophe verstärkt wird. Der Refrain und das nach den Harmonie-Gitarren startende Solo? Übernatürlich schön. Wie auch ›Guiding Lights‹: Wer genau hinhört, entdeckt in diesem Kleinod die späten Bombast-Savatage und die melodischen Prog-Zauberer Shadow Gallery, die Forges Musik ebenso gefärbt haben wie Saigon Kick in der Art und Weise, wie der Sänger seine Melodienetze auswirft. Die kratzigen Gitarren in ›Cenotaph‹ verhindern nur schwerlich, die Nummer als Pop-Mixtur aus Nick Kamens ›I Promise Myself‹, Status Quo, Saigon Kick und eben Ghost zu hören. ›De Profundis Borealis‹ hat ungleich stolzere Gitarrenmomente zu bieten, die von modernem skandinavischen Bombast-Hardrock umschlagen werden. Was Skeletá zwischen so viel Wohlklang fehlt, ist zumindest eine weitere monolithisch herausragende Stimmungsgöttlichkeit wie zuletzt ›Kaisarion‹, ›Call Me Little Sunshine‹, ›Spillways‹ oder ›Griftwood‹.

(8/10)
TEXT: DANIEL BÖHM

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