Annihilator

Stiefvaters Selbsttherapie

Mit Ballistic, Sadistic ist Annihilator eine unerwartet inspirierte Platte gelungen. Ursächlich für den Biss vieler Songs sind auch Ereignisse in der neuen Lebenssituation von Bandkopf Jeff Waters.

Eigentlich hatte sich der 53-Jährige Kanadier eine idyllische Heimstätte geschaffen, die er nicht mehr verlassen wollte: Sein Traumhaus, in dem er sich seine Watersound Studios eingerichtet hatte, lag direkt am Ottawa-Fluss in der Nähe der gleichnamigen kanadischen Hauptstadt. Dass er vor zwei Jahren sein Refugium dennoch komplett aufgab und nach Europa übersiedelte, ist der Liebe geschuldet. In Durham im Nordosten Englands lebt seine damalige Freundin und jetzige Ehefrau mit ihren beiden Kindern.

Auf ihrem Grundstück hat sich der seit 2015 zusätzlich wieder singende Gitarrist die Watersound Studios UK aufgebaut, die gleichermaßen als Proberaum, Schreibwerkstatt und Tonstudio dienen und die er alsbald auch vermieten möchte. Auch Ballistic, Sadistic ist hier entstanden: Ein strukturell und spielerisch außerordentlich keckes Annihilator-Werk mit tollen verschachtelten Riff-Parts und etlichen melodischen Soli, die durchaus auf Tuchfühlung mit den Platten der ersten beiden Klassiker-Phasen der markanten Band gehen, die zwischen 1989 und 1990 Alice In Hell und Never Neverland sowie King Of The Kill und Refresh The Demon hervorbrachte, auf denen Waters 1994 und 1996 erstmalig auch als Sänger in Erscheinung trat. Die neue Harmonie in Waters’ Privatleben hat Spuren auf seinem 17. Studio-Album hinterlassen — gleichwohl aber auch eine ordentliche Grundaggressivität, für die der Exil-Kanadier und passionierte Autosammler gleich eine Erklärung parat hat.



»Mir geht es tatsächlich sehr gut momentan. Meine neue Familie ist einfach großartig, Annihilator haben ein tolle Besetzung und funktionieren als Band wirklich super — und auch mein neues Studio ist cool geworden. Andererseits sind in den letzten anderthalb Jahren Dinge passiert, die mich sehr aufgebracht und wütend gemacht haben und die ich über das Songwriting kanalisieren konnte.

Zusätzlich zu den Problemen, vor denen jeder steht, der in ein anderes Land auswandert, gab es in dieser Zeit eine Person aus der Vergangenheit meiner Frau, die  unsere Familie bedroht und verängstigt hat. Ich war von einem Moment auf den anderen nicht nur Stiefvater und Ehemann, sondern auch Beschützer und eine Art Vermittler. Ich betrachte die Platte als eine Art Therapie, um all diese Erlebnisse zu verarbeiten. Daher rührt wohl die aggressive Stimmung.«

Dass die Scheibe ungewöhnlich inspiriert und somit nach mehr als bloß einem weiteren Annihilator-Album klingt, wird Waters erst während der Videoaufnahmen klar, als ihn ein Mitglied des Filmteams darauf aufmerksam macht, erzählt er. »Er sagte, dass Ballistic, Sadistic nach einer Platte mit einem wirklichen Sinn klinge. Normalerweise funktioniert mein Schreibprozess wie ein ganz normaler Arbeitstag. Ich stehe um neun Uhr auf, mache mir Kaffee und sitze anschließend den ganzen Tag im Studio, um Lieder zu erarbeiten.

Dieses Mal lief zweierlei anders: Ich hatte eine sehr stressige Zeit zu verarbeiten — sieben der zehn Nummern sind direkt von den Ereignissen der letzten 18 Monate inspiriert. Und dann habe ich meine Band konsequent dazu angehalten, mir direkt zu sagen, was es aus ihrer Sicht alles noch braucht, damit nicht nur ein typisches sondern ein richtig gutes Annihilator-Album entstehen kann.«



Im Bandkontext gleicht diese Herangehensweise einer kleinen Revolution, denn seit King Of The Kill sind Annihilator im Wesentlichen Jeff Waters’ Soloband mit wechselndem Bühnen-Personal. Andererseits scheint dieser Schritt Teil einer Entwicklung, die mit For The Demented (2017) einsetzte, das Waters zuletzt gemeinsam mit Bassist Rich Hinks schrieb und produzierte. Nunmehr hat der Chef noch viel stärker die aktuelle Besetzung seiner 1984 gestarteten Combo in den Entstehungsprozess eingebunden, zu der außerdem Gitarrist Aaron Keay Homma und Schlagzeuger Fabio Alessandrini gehören.

»Die erste Forderung war, dass ich unbedingt wieder gemeinsam mit einem richtigen Schlagzeuger an den Riffs arbeiten solle. Das habe ich zuletzt 1990 auf Never, Neverland so gemacht. Die nachfolgenden Alben sind alle mit Drumcomputer oder einer Schlagzeug-Software entstanden. Außerdem wollten sie vorher alle Riffs hören und ein Mitspracherecht bei deren Auswahl. Wir haben uns darauf geeinigt, dass mindestens zweien von uns ein Riff gefallen muss, damit er auf der Platte landen darf.«



Ballistic, Sadistic ist ein Album mit intelligenter Gitarrenarbeit: Die komplexen, nie verkopft wirkenden und im Groove immer mitnehmenden Riffabfolgen verschmelzen mit famosen Leads und griffigen Gesangsmelodien zu Perlen des Power-Thrash, die es in dieser Qualität von Annihilator schon sehr lange nicht mehr zu hören gab. Und auch aus einem weiteren Grund blickt Waters dieser Tage zurück: Die zweite LP der Band, sein erklärtes Lieblingsalbum Never, Neverland, wird nunmehr dreißig Jahre alt.

»Ich würde wirklich gerne ein oder zwei Jubiläumsshows für diese Scheibe machen, eben weil sie mein Favorit in unserer Diskografie ist. Coburn Pharr, der die Platte eingesungen hat, hat mich kurz nach dem Mixen des aktuellen Albums besucht. Wir haben uns lange unterhalten, um uns wieder kennenzulernen, denn es war das erste richtige Treffen mit ihm seit 1992.

Vor einigen Jahren haben wir uns zwar auf der 70.000 Tons Of Metal-Kreuzfahrt wiedergesehen, aber dort war er durchgehend betrunken. Vorletztes Jahr hat er dem Alkohol jedoch abgeschworen und als er mich besuchte, haben wir auch über die Möglichkeit eines Jubiläumskonzerts geredet, und er hat Lust darauf. Wir denken aktuell über ein oder zwei Shows nach, denn ich weiß nicht, wie gut Coburns Stimme hält und was er noch zu leisten imstande ist. Die Planungen laufen und der Wille ist da, aber mehr steht noch nicht fest.«


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