Konzerte vor über 10.000 Menschen, beinahe 1,5 Millionen monatliche Hörerinnen und Hörer auf Spotify — und kürzlich sogar eine großflächige Anzeige für eine US-Tour auf dem Time Square in New York: Was vor zwanzig Jahren beschaulich im Saarland begann, ist zum globalen Phänomen geworden. Neben brutal eingängigen Nummern in einem unverwechselbaren Soundgewand half dem Aufstieg von Powerwolf dabei auch ihr thematisches Profil, das mit bereits in ihrem Namen referenzierten (Wer)wölfen und anderen mythischen Sagengestalten ebenso genüsslich spielt wie mit der Kirchengeschichte. Alles dargeboten mit einer guten Portion Selbstironie, die sich nicht nur in den Texten zeigt.
»Ich würde Humor als unsere Waffe bezeichnen«, meint Gitarrist Matthew Greywolf, der als Hauptkomponist das Tun der Band in Klang und Inhalt maßgeblich verantwortet. »Natürlich gehen wir ernsthaft an unsere Musik heran. Aber wenn ich vor Nervosität auf der Bühne über meine eigenen Füße stolpere und einen Witz daraus machen kann, schafft das eine Verbindung zum Publikum. Wir erschaffen zwar eine große Fantasiewelt, aber diese Nahbarkeit bleibt das Wichtigste. Da muss ich im Besonderen unseren Sänger Attila Dorn loben, der dafür ein großes Talent hat.«
Dass Greywolf gerade den Kontakt mit der eigenen Anhängerschaft als Priorität hervorhebt, erscheint ob der Theatralik und der gewählten Künstler-Identitäten — nur der niederländische Schlagzeuger Roel van Helden tritt unter seinem bürgerlichen Namen in Erscheinung — zunächst widersprüchlich. Auf den zweiten Blick aber ist die Verbindung zwischen Band und ihren Fans unverkennbar, die längst dazu beitragen, den gesamten thematischen Powerwolf-Kosmos zum Leben zu erwecken.
Passend verkleidete Menschen auf den Konzerten oder Events wie die Rockharz-Beichte, für die Keyboarder Falk Maria Schlegel auf dem gleichnamigen Festival im sachsen-anhaltinischen Ballenstedt in einem Beichtstuhl Autogramme gab — und den vorstelligen Fans gleich auch ihre „Sünden“ gegenüber der Musikrichtung vergab getreu dem Bandmotto: „Metal is religion“. Diese rollenspielartige Interaktion bewirkt eine Immersion, die die Anhängerschaft bindet und einspannt. So bat die Band im Februar 2022 über ihre Social-Media-Kanäle um mögliche Geschichten für zukünftige Powerwolf-Songs.
Unter den Vorschlägen fanden die Musiker auch die Geschichte des Peter Stump aus Bedburg, westlich von Köln. Dieser hatte 1589 unter Folter zugegeben, ein Werwolf zu sein und insgesamt 16 Menschen getötet zu haben. Zur Strafe wurde er gerädert, verstümmelt, geköpft und verbrannt. »Die Geschichte hatten wir auch selbst schon ziemlich lange auf dem Zettel, und mir hat dazu immer eine ganz bestimmte Art von Song vorgeschwebt.
Es ist eine sehr emotionale und tragische Geschichte, die in meinen Augen nicht zu einem klassischen Metal-Song passt. Als großer Fan wollte ich immer eine Piano-Powerballade im Stil von Savatage daraus machen, aber so etwas lässt sich nicht erzwingen — ich habe es wirklich jahrelang versucht! Schlussendlich war es dann eine glückliche Fügung, dass mir diese Klavier-Figur eingefallen ist. Auf dem neuen Album ist ›1589‹ ein Ausnahmesong, denn für Wake Up The Wicked haben wir bewusst keine klassische Ballade geschrieben.«
Es ist nicht die einzige gezielt gewählte Soundanpassung, die Powerwolf im Unterschied zu ihren letzten beiden Platten The Sacrament Of Sin (2018) und Call Of The Wild (2021) vorgenommen haben. Auffällig ist etwa der Kinderchor in ›We Don’t Wanna Be No Saints‹, mit dem laut Matthew Greywolf ein lang gehegter Traum der Formation in Erfüllung ging.
Gleichzeitig habe ihnen für ihr neuntes Studiowerk mit eigenem Material aber eine direktere und rohere Anmutung vorgeschwebt. Besonders deutlich wird das bei Songs wie dem Titelstück, dem rasenden ›Thunderpriest‹ oder dem einpeitschenden Opener ›Bless ’Em With The Blade‹. Zwar setzen die Saarländer auch hier ihre charakteristischen, pathos-evozierenden Manierismen ein — am offensichtlichsten sind die allgegenwärtigen Breitwand-Chöre sowie Glockenschläge —, doch insgesamt zeigen sie sich gerade in diesen Stücken deutlich reduziert.
»Wir sind generell eine sehr intuitive Band, aber bei Wake Up The Wicked haben wir uns vorgenommen, das Orchester etwas dosierter einzubringen und eher die Band sprechen zu lassen. Das trägt zu dem Eindruck bei, dass die Platte härter und schneller geworden ist«, findet der 46-Jährige.
»Das gleiche gilt auch für die Kirchenorgel, die wir entschieden punktueller eingesetzt haben — eben weil es so ein prägnanter Sound ist, den man nicht großartig anders klingen lassen kann. Stattdessen haben wir uns eines erweiterten Spektrums an Tasteninstrumenten bedient, etwa Achtziger-Synthies, die wir aber eher subtil verwendet haben. In diesem Bereich sind mit unserem Produzenten Joost van den Broek, der von Hause aus Keyboarder ist, und Falk zwei absolute Nerds aufeinandergetroffen, was unglaubliche Ergebnisse hervorgebracht hat.«