Vanden Plas

Von einem guten Geist durchdrungen

Den theatralischen Bombast der vorangegangenen Alben haben Vanden Plas einstweilen hinter sich gelassen: Auf The Ghost Xperiment — Awakening entdecken sie ihre eigene Vergangenheit wieder. Mit dem härteren Grundton klingt die Prog-Metal-Institution nicht weniger anspruchsvoll.

Andy Kuntz hat den Eindruck, die Tage könnten ein paar Extrastunden vertragen. Mitte September sitzt der passionierte Sänger und Theaterschauspieler mal wieder auf gepackten Koffern: In Kürze muss er nach München, wo die Vorbereitungen für das Musical American Idiot zum Abschluss kommen, in dem er die Rolle des St. Jimmy verkörpern und seine Band die Live-Musik beisteuern wird. Das auf dem gleichnamigen Album der amerikanischen Pop-Punks Green Day basierende Stück wird Anfang November erstmals in München aufgeführt, ehe der Tross nach Innsbruck weiterzieht.

Bevor er zu diesem mehrwöchigen Trip aufbricht, ist der Frontmann aber nicht nur damit beschäftigt, über die jüngste Kreation seiner Band Vanden Plas zu sprechen. Denn gemeinsam mit Gitarrist Stephan Lill, Keyboarder Günter Werno, Bassist Torsten Reichert und Schlagzeuger Andreas Lill arbeitet er bereits am zweiten Teil von The Ghost Xperiment, der Mitte nächsten Jahres erscheinen soll — und produziert in all dem Trubel auch noch die bayerische Dark-Folk-Band Wolfsherz. Schlaf bekommt der 57-Jährige derzeit definitiv zu wenig.

»Ja, momentan brennt mal wieder richtig die Hütte«, schmunzelt Kuntz beim Versuch, seine Müdigkeit zu überspielen. »Aber das Gefühl, den ersten Teil von The Ghost Xperiment endlich von der Kette lassen zu können, beflügelt uns ungemein. Das Album ist seit einem halben Jahr fertig, doch im Sommer stand zunächst die Veröffentlichung unseres Box-Sets The Epic Years 1991 – 2015 auf dem Plan. Also mussten wir geduldig bleiben.«



Verglichen mit dem zuletzt ebenfalls zweigeteilten Chronicles Of The Immortals: Netherworld (2014 und 2017) wartet das aktuelle Vanden Plas-Werk mit einer verblüffend harten Ausrichtung auf. Ist auf den von Wolfgang Hohlbeins Buch Die Chronik der Unsterblichen — Blutnacht inspirierten Vorgängern die Verbundenheit der Musiker mit dem Theater regelrecht greifbar, wenn sie sich etwa in orchestralen Passagen manifestiert, so glänzt das Quintett auf The Ghost Xperiment mit charmanter Direktheit und dicken, harten Gitarrenriffs.

Der zupackende Albumstart ›Cold December Night‹, das majestätisch dahinwalzende ›Three Ghosts‹ und der Ohrwurm ›The Ghost Xperiment‹ sind kompakte Songs, denen es gleichwohl nicht an Komplexität mangelt. Ein Balanceakt, der bewusst auf Tuchfühlung mit der eigenen Vergangenheit geht, wie Andy Kuntz erklärt.

»Wir bewegen uns mit dem neuen Album ganz gezielt in Richtung unserer Wurzeln als Vanden Plas. Hinsichtlich dieser Marschroute waren wir uns einig, ehe es überhaupt Songansätze oder eine Idee für das Textkonzept gab. Harte Riffs sollten wieder im Fokus stehen, ohne dass die Eingängigkeit der Lieder darunter leidet. Für die beiden Chronicles-Alben war Theatralik ein immens wichtiger Aspekt, aber diesmal wollten wir in eine andere Richtung. Wenn ich The Ghost Xperiment in unser Gesamtwerk einsortieren müsste, würde das Album wohl einen Platz zwischen The God Thing und Beyond Daylight finden.«

Der Sänger kann es kaum erwarten, bis auch der zweite Teil der Geschichte fertiggestellt und auf Platte erhältlich sein wird. »Das Ding wird richtig knallen und unsere stilistischen Extreme noch mehr ausreizen als der erste Teil. Das fühlt sich gerade alles unglaublich gut an.«



Wie so oft in seiner seit den frühen achtziger Jahren andauernden Karriere erdachte Kuntz auch für The Ghost Xperiment eine Geschichte, die gleichermaßen tiefgründig wie unterhaltsam ist. Als Ansatzpunkt diente ihm eine wahre Begebenheit aus den frühen Siebzigern

Damals wollte eine kanadische Forschergruppe herausfinden, ob sie alleine durch ihre Vorstellungskraft dazu imstande wäre, einen Geist zu erschaffen und mit ihm zu kommunizieren. Die Beteiligten wollten mit diesem Hirngespinst all jene Menschen Lügen strafen, die an Übersinnliches glauben. Bekannt wurde das parapsychologische Szenario später als „Philip Experiment“.

»Mir schwebte schon seit längerem vor, eine Geistergeschichte zu schreiben, die nicht zu platt wirkt«, holt der stimmgewaltige Sänger aus. »Mir ist nicht an Effekthascherei gelegen, meine Geschichten müssen Substanz haben und bis zum Schluss fesseln. Darum kamen mir die Aufzeichnungen des Philip Experiments als Starthilfe sehr gelegen.« Die acht Personen, die 1972 an den Séancen in Toronto teilnahmen, wollten das Unerklärbare erklärbar machen und Geistergeschichten ad absurdum führen — ohne Erfolg.

»Letztlich trat genau das Gegenteil ein. Alles wurde durch unvorhersehbare Geschehnisse wahnsinnig mysteriös, und selbst die Involvierten konnten nicht länger leugnen, dass es wohl doch Kräfte gibt, die zwischen den Welten umherfleuchen. Zusammen mit Abhandlungen oder dem Romanfragment Der Geisterseher von Friedrich Schiller hat mir das den Anstoß gegeben, eine fiktive Geschichte zu schreiben, die in diese Richtung tendiert.«



Andy Kuntz glänzt als Geschichtenerzähler und versteht es ebenso gut, auf der Bühne in immer neue Rollen zu schlüpfen. Nachdem er in der ersten Jahreshälfte bereits mit den Stücken Everyman (Jedermann) und Der Herbst des Winterkönigs auf den Brettern stand, findet sein Theaterengagement nun mit American Idiot seine Fortsetzung. Sich in unterschiedliche Charaktere hineinzuversetzen und sie leidenschaftlich zu verkörpern, ist ein hartes Stück Arbeit. Missen möchte der in Kaiserslautern beheimatete Künstler nichts davon.

»Ich wurde schon häufig gefragt, ob es mich ärgert, dass Vanden Plas vor zwanzig Jahren mit dem dritten Album Far Off Grace nicht wesentlich größer geworden sind und ein breiteres Publikum erreicht haben. Das kann ich guten Gewissens verneinen. Ansonsten hätte es vermutlich unseren Abzweig in Richtung Theater niemals gegeben, was wiederum zu einer Lücke in meinem Leben geführt hätte.

Das Engagement an den Schauspielhäusern hat unseren Blick fürs Musikalische geschärft und uns beim Komponieren neue Horizonte eröffnet. All die Erfahrungen, die meine Mitstreiter und ich als kreative, musische Menschen am Theater machen dürfen, sind unbezahlbar — selbst wenn sie manchmal enorm anstrengend sind. Wären wir in den Neunzigern mit der Band durch die Decke gegangen, hätten wir vermutlich nichts von all dem mitbekommen. Ich bin zufrieden damit, wie die Dinge gelaufen sind!«


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