Dass es Propheten im eigenen Lande schwerer haben als anderswo auf der Welt, mussten sie immer wieder erleben. Aufgehalten hat es die 1965 gestarteten Musiker nie, die 1969 erstmals unter dem Namen Scorpions in Erscheinung traten: Mit über 80 Millionen verkaufter Platten sind die Hannoveraner die rockhistorisch bedeutsamste Gruppe, die Deutschland hervorgebracht hat — ihr Einfluss auf den Hardrock und den Heavy Metal ist immens.
Welche Songs sich die Band um Sänger Klaus Meine und das Gitarrendoppel Rudolf Schenker und Matthias Jabs für ihr Heimspiel zum 60. Geburtstag ausgesucht hat, das mitgeschnitten und ab dem 14.11. als Auslese unter dem Titel Coming Home Live in variantenreichen Tonträgerformaten erhältlich werden wird, ist nicht bekannt. Es sollte aber einigermaßen überraschen, wenn sich die Scorpions zu diesem Anlass nicht die eine oder andere Überraschung ausgedacht hätten.
Kürzlich — am 24.06. — gab es in Paris diese Stücke in der Accor Arena live zu erleben:
Coming Home
Gas In The Tank
Make It Real
The Zoo
Coast To Coast
Top Of the Bill / Steamrock Fever / Speedy's Coming / Catch Your Train
Bad Boys Running Wild
Delicate Dance
Send Me An Angel
Wind of Change
Loving You Sunday Morning
I'm Leaving You
New Vision
Tease Me Please Me
Big City Nights
Still Loving You
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Zugaben:
Blackout
Rock You Like A Hurricane
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Kritikerlieblinge waren die Scorpions in ihrer Heimat nicht gerade. Schon in den Siebzigern, als sie sich aus den Jugendzentren der Bundesrepublik in größere Konzerthallen vorarbeiten und sich immer weiter professionalisieren, wird ihnen naserümpfend vorgehalten, dass sie es als deutsche Gruppe viel zu sehr darauf anlegen, britische und amerikanische Musik zu spielen und diese am Ende den Erfindern des Rock auch noch verkaufen zu wollen: Deutsche Rockmusik hatte entweder bleischwer oder avantgardistisch zu sein oder sich zumindest politisch zu gebärden.
Ihren Traum, irgendwann einmal die USA und von dort aus den Rest der Welt zu erobern, haben sie bereits 1965, als Gitarrist Rudolf Schenker und Trommler Wolfgang Dziony im 9.000 Einwohner zählenden Sarstedt bei Hannover die Beat-Combo Nameless vorantreiben. Mit dem Zustieg seines jüngeren Bruders Michael an der Leadgitarre und Klaus Meine als Sänger, die bis dahin gemeinsam bei Copernicus gespielt hatten, gewinnt die 1969 in Scorpions umgetaufte Band an Qualität, Rockhärte und auch Profil. In der Amateur- und Semiprofiszene erspielt sie sich bundesweit einen beachtlichen Ruf, der ihr 1971 die Gelegenheit bietet, dem Anti-Drogen-Film Das kalte Paradies einige Stücke beizusteuern. Im Hamburger Star-Studio lernen sie Konrad „Conny“ Plank kennen, der sich einen Namen als Produzent von Guru Guru und Kraftwerk gemacht hatte und der Gruppe über die Filmmusik hinaus einen Produktionsvertrag anbietet: »Conny hat als erster das Potenzial erkannt, das in der Band steckte«, erinnert sich Meine. »Mit ihm fing alles an. Wir haben dann eine Woche lang wie die Verrückten unser Zeug eingeübt und mit einem Schlag waren wir in einem professionellen Aufnahmestudio und dachten: Das ist unsere Chance!«
Plank bringt seine Schützlinge beim frisch von der Hamburger Plattenfirma Metronome gegründeten Label Brain unter, das 1972 Lonesome Crow veröffentlicht: Ihr Debüt bleibt auf lange Zeit das seltsamste Album der Scorpions, auf dem besonders der junge Michael Schenker als impulsives Gitarrentalent glänzt. Im jam-lastigen ›It All Depends‹ etwa — in ›Inheritance‹ und dem kruden ›Action‹ hingegen ist vor allem Bassist Lothar Heimberg der unbesungene Held. Hin und wieder lässt sich in den mit ausladenden Instrumentalpassagen durchsetzten Stücken ein Echo von Cream, Led Zep und Black Sabbath heraushören, im Kern jedoch ist das psychedelische Album ein Zeugnis der das musikalische Abenteuer liebenden Krautrock-Ära.
Von der Erstlingsbesetzung sind zwei Jahre später nur noch Klaus Meine und Rudolf Schenker in der Band; mit dem hinzugekommenen Francis Buchholz am Bass und Schlagzeuger Jürgen Rosenthal gewinnen die Scorpions eine solide Rhythmusgruppe. Für den zu UFO abgewanderten Gitarristen Michael Schenker rückt in Uli Jon Roth der nächste Virtuose nach, der durch seine Obsession für die Musik von Jimi Hendrix neue Klang-Tore aufstößt Auf Fly To The Rainbow wird ›Drifting Sun‹ zu seiner Bühne: ein psychedelischer Heavy-Rocker mit famosen Leads, bei dem er sogar den knödelnden Gesang übernimmt. Ein Moog-Synthesizer zeichnet zierende Schnörkel; in ›Fly People Fly‹ tun es Orgel- und Keyboard, in ›Far Away‹ ein Mellotron. Dass die Scorpions inzwischen Wert auf Lieder mit tragenden Melodien legen, zeigt sich nicht nur in den hübschen Zwillingsgitarren von ›This Is My Song‹: Meines erstarkte Stimme inmitten Schenkers saftigen Power-Riffs in ›Speedy’s Coming‹ kündigt erstmals ihren markanten Sound der Zukunft an.
Für ihre nächste LP soll erstmals ein Produzent aktiv mit der Gruppe an ihrer Musik arbeiten. Ins Auge gefasst haben sie Dieter Dierks: Der in Stommeln bei Köln residierende Studiospezialist hatte bereits mehrfach mit Nektar aufgenommen und die deutschen Atlantis auf internationalem Niveau produziert. Zunächst lässt sie Dierks die eingedeutschten Sweet-Gassenhauer ›Fox On The Run‹ (›Fuchs geh voran‹) und ›Action‹ (›Wenn es richtig losgeht‹) aufnehmen, die als Single unter dem Bandnamen The Hunters erscheinen.
In Trance (1975), Virgin Killer (1976) und Taken By Force (1977) entstehen, die besonders in Japan für Aufsehen sorgen, wo die plötzlich als Helden verehrten Scorpions ein energiegeladenes wie musikhistorisch bedeutsames Live-Dokument mitschneiden: Tokyo Tapes markiert 1978 das endgültige Vordringen einer deutschen Rockformation in den Weltmarkt, was bis dahin Elektronikern wie Tangerine Dream und Kraftwerk vorbehalten war. Im selben Jahr nimmt Roth wegen künstlerischer Differenzen seinen Hut. Für ihn findet der versierte Matthias Jabs zur Band, muss aber einstweilen dem zurückkehrenden Michael Schenker weichen, bevor er fest einsteigt. Beide sind an dem 1979 alles verändernden Lovedrive beteiligt, das endlich Ansehen und die erste Goldene Schallplatte in den USA einbringt.
Bis zur Mitte des Folgejahrzehnts erlebt das Quintett den Aufstieg zu einer der größten Hardrock-Formationen des Planeten, ehe es 1990 in der Heimat konsensfähig wird: Crazy World wird dank der Wende-Ballade ›Wind Of Change‹ zur in Deutschland meistverkauften Scorpions-Platte. In den Neunzigern scheint die Gruppe mit halbgaren Scheiben vorrangig für Auftritte bei Wetten dass…? zu leben, erst 2004 rehabilitiert sie sich mit Unbreakable in der Welt des klassischen Hardrock.
Drei Jahre später gönnten sich die Scorpions dem von Desmond Child geformten Konzept-Album Humanity – Hour I einen Rock-Moment der modernen und fordernden Art. Ein Versehen war ihre mit Unbreakable unternommene Expedition zu den Wurzeln deshalb aber noch lange nicht, was in der Folge Sting In The Tail unterstrich. Und gerade auch das jüngste Studioalbum Rock Believer (2022): Ein Album für alle jene Nostalgiker, die in den Achtzigern durch die Hannoveraner metallisch sozialisiert wurden — und gemeinsam mit ihnen gealtert sind. ›Peacemaker‹, ›Seventh Sun‹, ›Hot And Cold‹ oder auch ›Shining Of Your Soul‹ spielen mit schmatzenden Riffs mit Querverweisen zur eigenen Historie. Man sieht sie wieder deutlich vor sich, wie sie mit wehendem Schnauzbart und in kneifender Spandex in der selbst gebauten Scorpions-Pyramide herumturnen. Bitte noch etwas mehr davon — und weit über den 5. Juli hinaus!