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Ace Frehley

Das beste Album seiner Karriere

Auf dem Höhepunkt ihres Ruhms drohen Kiss 1978 zu zerbrechen. Sie wagen ein in der Musikgeschichte einmaliges Experiment: Getrennt nehmen sie vier sehr unterschiedliche Solo-Alben auf, die alle am selben Tag erscheinen. Zum Hit wird lediglich Ace Frehley.

TEXT: DANIEL BÖHM |FOTO: Abumcover

Ende der siebziger Jahre stehen Kiss in voller Blüte. In einer Kettenreaktion hatten Alive! (1975), das kunstfertig-bombastische Destroyer (1976), sein rauer Gegenentwurf Rock And Roll Over (1976) und Love Gun (1977) als Zusammenführung beider Ansätze eine regelrechte Fieberwelle ausgelöst, die das geschminkte Hardrock-Quartett aus New York mit seinen spektakulären Live-Shows befeuerte. Zudem war es ihnen mit Hilfe ihres geschäftstüchtigen Managers Bill Aucoin gelungen, das comichafte Superhelden-Image der Gruppe sukzessiv zu einer Marke aufzubauen, die sich über ein immenses Fan-Artikel-Sortiment stützen und auch außerhalb von Plattenläden und Konzertarenen vermarkten lässt.



»Damals haben Kiss fast 120 Millionen Dollar umgesetzt, die Hälfte davon waren Einnahmen aus dem Merchandise. Auf einen Geldwert der heutigen Zeit umgerechnet sind das mehrstellige Milliardenbeträge«, erzählte der Bill Aucoin in einem Interview mit ROCKS ein gutes Jahr vor seinem Tod im Juni 2010. Es sind die Früchte harter Arbeit, die Kiss vier Jahre lang nicht haben zur Ruhe kommen lassen — womit Gene Simmons und Paul Stanley weitaus weniger Probleme zu haben scheinen als Gitarrist Ace Frehley und Schlagzeuger Peter Criss. Die beiden Musiker fühlen sich zunehmend kontrolliert, in ihren Freiheiten beschnitten und überhaupt von den beiden ehrgeizigen und karrierefokussierten Band-Chefs zu deren Erfüllungsgehilfen degradiert, als die sie zu viel Zeit totzuschlagen haben. Alkohol und Drogen helfen ihnen dabei und lassen sie im Umgang immer komplizierter und unzuverlässiger werden.



Auf Love Gun folgt noch im selben Jahr die Konzertnachlese Alive II — dann eskaliert die Situation zwischen den beiden Fronten: Als Frehley voller Trotz bekannt gibt, ein Solo-Album aufnehmen zu wollen und Peter Criss ebenfalls auf diese Idee einsteigt, droht die Band auseinanderzubrechen. Um die Wogen zu glätten, hat ihr Manager einen ungewöhnlichen Einfall: Nicht bloß Frehley und Criss würden die Möglichkeit bekommen, sich mit eigenen Alben zu verwirklichen; alle vier Musiker sollten einen Teil des Jahres 1978 dazu nutzen, getrennt voneinander an Solo-Platten zu arbeiten, die zeitgleich erscheinen werden. Ein in der Rockgeschichte einmaliges Unterfangen.
»Auf diese Weise konnten sie etwas Abstand und Ruhe von sich selbst bekommen«, so Aucoin. »Sie mussten einfach mal etwas runterkommen. Lediglich eine Pause einlegen ging damals nicht, weil wir dem Label laut Vertrag noch weitere Alben schuldeten und die Produktionskosten der Shows immens hoch waren. Auf diesem Wege konnten wir der Plattenfirma auch gleich vier Alben anbieten.«
Aucoin weiß, dass seine Deeskalationsbemühungen ein Risiko für alle bleiben. Nicht nur wegen der nun gleich viermal fällig werdenden Studiokosten. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass mindestens eine der Solo-Scheiben so gut ankommen könnte, dass der verantwortliche Kiss-Charakter die Band am Ende erst recht zugunsten einer Solokarriere verlassen könnte. Allerdings ist die Stimmung untereinander mittlerweile derart explosiv, dass die gesamte Formation bereit ist, jedes Risiko in Kauf zu nehmen, um die Band zusammenzuhalten.



»Gene und Paul haben mir damals nicht viel zugetraut«, erzählt Ace Frehley. »Auf Love Gun hatte ich ›Shock Me‹ unterbringen und selbst singen dürfen, auf Alive II ›Rocket Ride‹. Ansonsten wollten sie von meinen Songs aber nichts wissen. Ich wollte es den beiden so richtig zeigen und habe mir für mein erstes Album zwei Monate Zeit gelassen. Ich habe all meine Gitarren und Verstärker ins Studio geschleppt, um für jeden Song die richtigen Sounds zu finden.«
Produzent Eddie Kramer soll ihm dabei helfen, er ist ein enger Vertrauter. 1973 hatte er das erste Kiss-Demo aufgenommen und ihnen zwei Jahre später mit der Konzertillusion Alive! zum Durchbruch verholfen; gleichermaßen gingen auch Rock And Roll Over, Love Gun und Alive II durch seine Hände. »Ace und ich standen uns in dieser Zeit sehr nahe. Er mochte den Sound, den wir zusammen hinbekamen«, erzählt Kramer. »Ich habe ihn als Gitarristen immer bewundert und war beeindruckt von den Songs, die er mir vorlegte — genauso aber auch von der Cleverness und Komplexität mancher Gitarrenparts. Die Leute denken, Ace sei damals ständig dicht und zugedröhnt gewesen, im Studio war er aber tatsächlich sehr diszipliniert. So ist das wahrscheinlich beste Album seiner Karriere entstanden.«
Zusammen mit Kramer mietet Frehley eine Villa in Connecticut. Da er beschließt, für die meisten Lieder neben Gesang und Gitarre auch gleich den Bass zu übernehmen, muss er lediglich noch einen geeigneten Schlagzeuger finden. Seine Wahl fällt auf Anton Fig (Spider), der später auch auf den Kiss-Werken Dynasty und Unmasked sowie auf mehreren von Frehleys späteren Alben zu hören sein wird; heute ist die Studio-Koryphäe unter anderem als langjähriger Drummer von Joe Bonamassa geschätzt.



»Das größte Problem war der Gesang«, erinnert sich Kramer. »Auch wenn sich Ace als Sänger immer tapfer durchgeschlagen hat, behagte ihm diese Rolle lange gar nicht. Zumindest im Studio nicht. Er war dermaßen nervös und angespannt, dass er sich irgend-wann zum Singen mit einem Kopfkissen auf den Fußboden gelegt hat — in einer Hand hatte er eine Flasche Bier, in der anderen das Mikro. So hat er dann ein, zwei Strophen oder einen Refrain gesungen, bis er lockerer wurde und sich dann zumindest mal aufgesetzt hat.«
Die vier musikalisch sehr unterschiedlichen Solo-Alben kommen zeitgleich am 18. September 1978 auf den Markt — flankiert von einer sündhaft teuren Werbekampagne mit einem Budget von rund 2,5 Millionen Dollar. Paul Stanley mag das musikalisch und melodisch ausgeformteste gelungen sein. Und doch ist es das Werk von Frehley, das nicht wenigen als das souveränste, spannendste und liebste Album der Solo-Serie gilt. Das kommerziell erfolgreichste ist es allemal. Bis in die Arrangements hinein ist Ace Frehleys Drang zu spüren, es nicht nur seinen Bandkollegen so richtig zu zeigen, sondern der geschlossenen Hardrock-Gilde der Siebziger gleich mit.


 


›Rip It Out‹ ist eine stürmisch-coole Heavy-Nummer, die bis in den Refrain hinein fest mit seiner eigentlichen Band verbunden ist — auch der hymnische Glam-Boogie ›Speedin’ Back To My Baby‹ ist Kiss-tauglich bis zum Anschlag. Weitaus größer inszeniert er das melodisch absolut gloriose ›What’s On Your Mind‹, für das er elektrische und akustische Gitarren miteinander verschränkt und mit herrlichem Power-Pop spielt. Im hypnotischen ›Ozone‹, das 1995 die Foo Fighters covern, verwendet er zusätzlich einen der ersten verfügbaren Gitarrensynthesizer überhaupt. Zum bekanntesten Song der Platte — und zum einzigen Hit aller vier Alben — avanciert das stolz und fidel in bester Glam-Manier daherstampfende ›New York Groove‹, das es bis auf Platz 13 der US-Hitparade schafft. »Eddie wollte es unbedingt mit auf die LP nehmen, weil wir alle der Meinung waren, dass uns noch eine etwas massentauglichere Nummer fehlte«, freut sich Frehley. Neu ist das Stück nicht: Schon 1975 war den Glamrockern Hello damit ein Hit in Großbritannien und Deutschland gelungen, geschrieben hat es der Engländer Russ Ballard.



»Seine Platte enthält die stärksten Songs, die Ace jemals geschrieben hat, egal ob bei Kiss oder später danach«, lobt Simmons heute. »Man spürt, dass er während der Arbeit total fokussiert war und nicht hart gesoffen oder Drogen eingeworfen hat. Diese Scheibe zeigt, wie gut er sein kann, sie offenbart sein ganzes Potenzial. Sachen wie ›Ozone‹ oder ›Speedin’ Back To My Baby‹ sind einfach große Klasse. Für Leute, die damals den typischen Kiss-Sound erwartet haben, war es wahrscheinlich das beste Album. Auch Pauls Album war überwiegend im Stil von Kiss gehalten. Peters Scheibe brachte seine Liebe zum Rhythm’n’Blues zum Vorschein. Mir ging es bei meiner um die Abwechslung.«

Auch Frehley ist mit dem Ergebnis hochzufrieden — und kann sich einen Seitenhieb nicht verkneifen: »Die Alben der anderen habe ich mir nie wirklich angehört. Genes Scheibe habe ich zumindest mal aufgelegt. Bei seiner Version von ›When You Wish Upon A Star‹ musste ich sie aber schnell wieder ausmachen«, kichert der heute 72-Jährige. »Ich selbst habe damals erst richtig gemerkt, wozu ich in der Lage bin. Als Sänger und Gitarrist war ich danach viel selbstbewusster.«


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