Poison

Native Tongue (1993)

Galten Poison immer als Synonym für plumpen Party-Hardrock, so überraschten sie auf Native Tongue mit echter musikalischer Substanz. Verantwortlich dafür war Gitarrenschlingel Richie Kotzen.

TEXT: DANIEL BÖHM

Was tun, wenn die Karriere rund läuft und selbst die Zweitvilla vor Platinauszeichnungen aus allen Nähten platzt? Man schafft sich die Probleme selbst. Kein Jahr nach der Veröffentlichung von Flesh And Blood (1990) mehren sich die Pressemeldungen über die unterschiedlichsten Rausch-Aussetzer der Mitglieder von Poison, die im Zwangsentzug von Bassist Bobby Dall und Gitarrist C.C. DeVille gipfeln.

Ein vor laufender Kamera ordentlich verpatzter Auftritt bei den MTV-Awards folgt — und als die Gruppe dann auch noch vergisst, ihren wasserstoffblonden Gitarristen von der Absage eines Festivaltermins zu unterrichten (DeVille erfährt erst auf dem Hinflug davon), verlässt dieser die Band.

Als Ersatz holen sich Poison ein Wunderkind ins Haus: Wie viele begabte Gitarristen jener Zeit war Richie Kotzen in den späten Achtzigern von Talentscout Mike Varney entdeckt worden, über dessen Label Shrapnel er bereits drei Alben veröffentlicht hatte. Sänger Bret Michaels suchte ohnehin die Veränderung und den Neuanfang — und der junge Saitenvirtuose brachte sie.



Galt die Combo aus L.A. bis dahin als Synonym für eher plumpen Party-Hardrock, so überraschte sie auf Native Tongue mit technischer Finesse, Wärme und echter musikalischer Substanz. Durch Richie Kotzen bekam der Sound von Poison eine für unmöglich gehaltene Tiefendimension und lehnte sich behutsam an blues- und soulverbundene Hardrock-Formationen wie die frühen Black Crowes an, ohne dass der Partycharakter ihres liebgewonnen Frühwerks auf der Strecke blieb (›Body Talk‹): Die Gitarren erwachen zum Leben, werden von dezenten Orgelklängen und Mandolinen unterstützt, das grandiose ›Stand‹ prunkt sogar mit Gospelchor.

Nach nur einem Album und dem famosen Konzertfilm (7 Days Live) war das Poison-Kapitel für Richie Kotzen schon wieder zu Ende: Sein heimliches Techtelmechtel mit der damaligen Freundin von Schlagzeuger Rikki Rockett kam gar nicht gut an.



Sein Nachfolger wurde der 1971 geborene Blues Saraceno, ein Kind der Ostküste und aufstrebender Gitarrenkünstler mit eigener Identität, der seine Karriere 1989 mit Never Look Back begonnen hatte und bereits für Native Tongue als Nachfolger von C.C. DeVille im Gespräch war. Zwischenzeitlich spielte er zudem in der Band von Cream-Veteran Jack Bruce.

Das mit ihm 1994 entstandene Poison-Album Crack A Smile ist ein ebenso facettenreichen Hardrock-Album, das bei aller Partytauglichkeit bedeutend gehaltvoller geriet als die Platten der DeVille-Ära — nicht zuletzt wegen Saracenos selbstbewusster Saitenarbeit mit starken Riffs und kunstvollen Soli. Neben urtypischen Hymnen (›Sexual Thing‹, ›Shut Up, Make Love‹, ›No Ring, No Gets‹) und Powerballaden mit Klavierverstärkung (›Be The One‹, ›Lay Your Body Down‹) bietet es Punkiges (›Doin’ As I Seen On My TV‹), mit Blues- und Funk-Schlieren Versehenes (›Mr. Smiley‹) und als Startschuss den gelungenen Mundharmonika-Rocker ›Best Thing You Ever Had‹.

So locker und gelöst Crack A Smile auch klingen mag: Die Entstehung war es nicht. Überschattet wurde sie von einem Unfall, bei dem Bret Michaels im Mai 1994 in einen schweren Crash mit seinem Ferrari verwickelt war, was die eigentlichen Aufnahmen bis 1995 verzögerte.



Als Krönung beschloss ihr Label Capitol Records, die Platte ganz auf Eis zu legen und veröffentlichte stattdessen  Poison’s Greatest Hits: 1986-1996 mit den neuen Stücken ›Sexual Thing‹ und ›Lay Your Body Down‹. Erst im März 2000 erschien das komplette Material als Crack A Smile… And More! mit Bonusnummern schließlich doch noch regulär — Blues Saraceno war zu diesem Zeitpunkt längst weitergezogen.


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