Yes

Die Freiheit aus dem Handgelenk

Das elitäre Tales From Topographic Oceans hätte die Progressive-Rock-Innovatoren beinahe aus der Umlaufbahn geschossen. Ihre Experimentierlust nahm dadurch keinen Schaden: Auf Relayer offenbarten Yes 1974 ein neues Niveau der Virtuosität.

TEXT: MARKUS BARO |FOTO: Albumcover

Die Fallhöhe war enorm. Mit Close To The Edge war Yes 1972 der definitive Art-Rock-Meilenstein gelungen, doch gleichzeitig kamen Sänger Jon Anderson, Gitarrist Steve Howe, Bassist Chris Squire, Keyboarder Rick Wakeman und Trommler Bill Bruford dem im Titel thematisierten Abgrund gefährlich nahe: Interne Unstimmigkeiten, technische Hindernisse und ihr Streben, die Grenzen des musikalisch Machbaren anzusteuern und auch zu überwinden, ließen die Aufnahmen zur Zerreißprobe werden. Der Filigran-Schlagwerker war das erste Opfer dieser Entwicklung. Er wanderte zu den angesagten King Crimson ab und ließ seinem geradliniger agierenden Nachfolger Alan White, der zuvor unter anderem auf John Lennons Album Imagine getrommelt hatte, kaum Zeit zur Einarbeitung.



Ein Hindernis war das nicht. Ein musikalisch weit verzweigtes und textlich spirituell geprägtes Doppelalbum bereichert die Musikwelt um vier ätherisch-vernebelte Klanglandschaften, die jeweils eine Plattenseite einnehmen und symbolisch für die vier heiligen Schriften Indiens stehen. Dem bodenständigen Tastenvirtuosen, der Alben wie Fragile oder eben Close To The Edge mit eher wagnerianischem Bombast geprägt hatte, war das zu esoterisch. Zudem fehlte Wakeman jener Gemeinschaftsgeist, der sie zuvor viele gemeinsame Wochen im Proberaum vereint hatte. Für Tales From Topographic Oceans hatten Steve Howe und Jon Anderson klare Vorgaben gemacht, was den heute 75-Jährigen veranlasste, der Band im Anschluss an die nachfolgende Tour zum ersten Mal den Rücken zu kehren. Es war zunächst an dem griechischen Synthie-Pionier Vangelis, diese Lücke zu füllen. Ein hervorragender Musiker — mit einem leichten Defizit, wie sich White erinnerte.

»Ihm gefiel, dass wir unsere Musik weitgehend aus Improvisationen destillierten, doch er zierte sich, die einmal ausgearbeiteten Liedelemente dann auch niederzuschreiben und korrekt wiederzugeben. Er wollte bei Studioaufnahmen und auch auf der Bühne lieber frei improvisieren. Gut für ein Jazz-Ensemble, aber definitiv schlecht für eine Rockband.« Ein herber Rückschlag, der deutlich machte, dass der blonde Tastenhexer nicht eben im Vorbeigehen zu ersetzen war. Der nächste Mensch, der ein Keyboard bedienen könne, werde auf ihrer nächsten Platte spielen, beschloss die Band nicht ganz ernst gemeint, aber doch in höchster Not. Sogar Keith Emerson geriet in ihr Visier, eine Herausforderung, die der Drummer gerne angenommen hätte. »Aber er hat uns ganz offen gefragt, was ihm denn Yes bieten könnten, was er bei ELP nicht hätte, und das war nicht viel, wie wir uns zähneknirschend eingestehen mussten.«



 

ROCKS-Abo mit VINYL-Prämien!https://www.rocks-magazin.de/rocks-abo-aktion-mit-vinyl-praemien


Davon unbeeindruckt, arbeitete die Equipe in Howes Garagen-Studio in Surrey an neuen, abenteuerlichen Songideen. Jon Anderson zeigte sich stolz auf den Quantensprung, den sie mit dem Vorgänger vollzogen hatten, wollte sich dennoch künftig von einengenden Strukturen lösen, verriet White. »Auf Tales From Topographic Oceans war jeder Ton festgeschrieben, nun sollten wir aus ein paar losen Melodiefragmenten möglichst spontan etwas zaubern.«

 

In diese Atmosphäre des Aufbruchs stieß der in der Schweiz geborene Tastenmann Patrick Moraz, der seinen Posten bei den aufstrebenden Prog-Rockern Refugee aufgab, um mit dem nächsten Yes-Studioalbum Relayer Progrock-Geschichte zu schreiben. Weitgehend vom Jazz inspiriert und geprägt von Synthesizern und anderen elektronischen Wundermitteln, hob er sich deutlich von der Spielweise seines Vorgängers ab, gab der 2022 verstorbene Trommler zu Protokoll. »Patrick brachte frischen Wind, und wir entwickelten vom ersten Moment an mit ihm einen neuen Enthusiasmus. Wir haben an dieser in Teilen völlig verrückten Klangcollage ›Sound Chaser‹ gearbeitet, in der das Zusammenspiel zwischen Drums und elektrischem Piano anders als alles klang, was Yes bis dahin gemacht hatten, und trotzdem lief es von Anfang an wie geschmiert. Wir wurden langsam wieder zu einer Einheit.«

 

Dass alle Musiker in den Schreibprozess eingebunden waren, trug ebenfalls merklich zu einer besseren Stimmung bei. Fokussierter hatte der Schlagzeuger die Band noch nicht erlebt, »›Gates Of Delirium‹ hat so viele diffizile Passagen, dass jeder mit voller Energie und Präzision bei der Sache sein musste. Den Song einfach mal leger runterspielen zu wollen, hat nicht funktioniert, da ist alles zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Auch um ›Sound Chaser‹ druckvoll und ohne Durchhänger hinzubekommen, mussten wir jede Sekunde hellwach sein. Doch im Grunde haben wir gearbeitet wie immer. Wir haben zuerst die Melodien ausgefeilt und dann den ganzen technischen Stoff draufgepackt. Das hat Yes immer von anderen Bands unterschieden. Unsere Musik mag sehr komplex und technisch wirken, ist aber auch sehr melodiebetont.«



Eine Atmosphäre, in der sich Moraz zunächst merklich heimisch fühlte. Sein erster Arbeitstag sei ihm dabei besonders im Gedächtnis geblieben. Anderson habe ihm ein paar rudimentäre Melodien vorgesungen und ein paar Übergänge auf dem Piano vorgespielt. »Wir fingen sofort an zu jammen und entwickelten das Stück quasi aus dem Handgelenk. Es war eine Zeit der Freiheit, die ich sehr genossen habe.« Auch der relativ neue Mann an den Drums konnte endlich sein ganzes Potenzial abrufen und seine Mitstreiter von seinen Fähigkeiten überzeugen. Stunden hatte er auf diversen Schrottplätzen zugebracht und auf alte Autoteile eingedroschen, um neue Sounds und Rhythmen zu finden und sorgte damit auch für größere Flexibilität und eine frische Energie, was neben der textlich auf Tolstois Roman Krieg und Frieden basierenden Prog-Fusion-Suite ›The Gates Of Delirium‹ besonders dem atemlosen Jazz-Rocker ›Sound Chaser‹ zugutekam. Seinen Mitstreitern mochten die Fortschritte ihres eher stillen Mitglieds lange verborgen geblieben sein, ihr langjähriger Produzent Eddie Offord erkannte sie sofort.

»Ich glaube, besonders Chris und Steve hatten insgeheim immer noch Zweifel, ob Alan den zweifellos technisch viel versierteren Bill Bruford je würde ersetzen können. Aber was ihm an spielerischer Raffinesse fehlte, glich er mit Seele und Gefühl aus. Und in ihrer Musik ging es ja sehr viel um Seele und Spiritualität. Mit Relayer legten Yes auch die Basis für ihre weitere Entwicklung, und dafür war Alan enorm wichtig.« Der Ruhepunkt ›To Be Over‹ beendet mit Pedal-Steel-Gitarre und Sitar ein Album, dem lange der Ruf des schwarzen Schafes im Katalog der Band anhaftete. Die Rehabilitierung der Scheibe erlebte Moraz nicht mehr als Yes-Mitglied. Seine Ideen fanden, mit Ausnahme des Intros zu ›Sound Chaser‹, keine Berücksichtigung, zudem wurde hinter den Kulissen bereits mit Nachdruck an der Rückkehr Wakemans gearbeitet. Denn was die Verkaufszahlen anbelangt, enttäuschte ihr siebter Studio-Dreher. Der Nachfolger Going For The One warf in ›Wondrous Stories‹ einen internationalen Hit ab und bereitete die Band auf ihren Durchbruch im Mainstream-Lager mit 90125 vor. Das letzte mustergültige Prog-Meisterwerk der langlebigen Gruppe bleibt aber Relayer.

ROCKS PRÄSENTIERT

DAS AKTUELLE HEFT

Cover von ROCKS Nr. 107 (04/2025)