Kino

Spagat ohne Stress

Erst nach 13 Jahren lässt die Prog-Formation um Pete Trewavas (Marillion, Transatlantic) ihrem hervorragenden Debüt ein zweites Album folgen. Radio Voltaire verknüpft komplexen Neo-Prog mit Pop-Hooklines.

TEXT: SASCHA SEILER |FOTO: PR

Die britische Band Kino darf man durchaus als Prog-Supergroup bezeichnen, auch wenn sie im Kern nur aus zwei Musikern besteht. Einer davon ist John Mitchell, hauptberuflich Frontmann von It Bites und Gitarrist bei Arena, zudem Solokünstler und am Projekt Lonely Robot beteiligt. Der andere hört auf den Namen Pete Trewavas und ist Genre-Fans als Bassist von Marillion und Transatlantic bestens bekannt.

Vor 13 Jahren nahm das Duo ein erstes, sehr gut angenommenes Album auf. Ein Nachfolger aber wollte ihnen einfach nicht gelingen. »Wir hatten sogar schon Material geschrieben und standen die ganze Zeit in Kontakt«, erzählt Trewavas. »Doch beide waren wir so beschäftigt, dass wir nie über die Planungsphase hinausgekommen sind.«

Dieser Zustand änderte sich erst, als John Mitchell irgendwann neue Leute zu einer zweiwöchigen Session in sein Haus einlud: Zu ihnen gehörte zum einen John Beck, Keyboarder von It Bites und Mitglied der Tourbands von Fish und Alan Parsons, zum anderen Craig Blundell, zeitweiliger Schlagzeuger von Steven Wilson.



»Die Songs waren im Grunde fertig komponiert«, erinnert sich Trewavas. »John hatte einige geschrieben, ich auch. Witzigerweise gehörte dazu auch Material, an dem wir schon vor zwölf Jahren gearbeitet hatten. Da wir wussten, dass wir in diesen zwei Wochen etwas Vernünftiges hinbekommen mussten, haben wir uns rangehalten — und es hat funktioniert.«

Das Resultat heißt Radio Voltaire. Anders als bei Marillion, wo Stücke manchmal aus langen Jams entstehen, fallen die Songs auf dem zweiten Kino-Album knackig und direkt aus. Das erfreut vor allem Trewavas: »Ich liebe Melodien, denn sie sind auch im Prog die Essenz eines Liedes. Bei Marillion arbeiten wir ganz anders, und das ist für diese Band auch in Ordnung. Hier haben John und ich großen Wert darauf gelegt, tatsächlich Songs zu komponieren, die wir dann gemeinsam mit den anderen beiden Musikern arrangieren können.«



Radio Voltaire findet seine Wurzeln einerseits tief im Neo-Prog, zumal die Musiker sich nicht scheuen, ihre technischen Fähigkeiten in die Waagschale zu werfen. Andererseits gehen die Stücke bei aller Komplexität sehr schnell ins Ohr — ein Spagat, der nur wenigen Prog-Bands gelingt.

Für Trewavas erwies sich die Arbeit mit Kino als Frischzellenkur und nicht als zusätzlicher Stress: »Ich spiele im Prinzip in vier Bands, denn es gibt neben Marillion, Transatlantic und Kino noch Edison’s Children. Aber sie arbeiten alle vollkommen unterschiedlich, so dass ich das Ganze trotz gelegentlicher Terminprobleme nicht als Belastung, sondern als stetige Erweiterung meines musikalischen Horizonts empfinde. Wir sind mit Marillion sehr erfolgreich, da besteht immer die Gefahr, in einen gewissen Trott zu verfallen. Projekte wie Kino erden mich wieder.«


Dieser Text stammt aus ROCKS Nr. 64 (03/2018).

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