Dirty Shirley

Dirty Shirley

Frontiers
VÖ: 2020

Auf den Spuren des Mob

Schwer zu glauben, dass es eine Zeit in den späten Neunzigern gab, in der George Lynch weder sonderlich inspiriert noch überhaupt als Musiker wirklich produktiv war. Was der heute 65-jährige Gitarrenkünstler alleine in diesem Jahrzehnt für einen Schaffensdrang entwickelt hat, ohne dass seine Identität oder die Qualität seiner Musik darunter gelitten hätten, ist schlichtweg enorm. Dirty Shirley ist nach The End: Machine und dem dritten Album von KXM bereits das dritte hochkarätige Plattenprojekt von George Lynch innerhalb eines Jahres. Und wer bereits The End: Machine als zeitgenössische Weiterführung von Lynch Mob etwas abgewinnen konnte, bei denen passenderweise mit Robert Mason die Stimme des zweiten Lynch Mob-Albums aus dem Jahr 1992 zu hören war, sollte mit Dirty Shirley erst recht glücklich werden.

Denn dieses Album tönt noch sehr viel klassischer nach dem Mob und seinem Initiator. So sehr sogar, dass die Frage erlaubt sein muss, weshalb diese Platte schon wieder unter einem neuen Projektnamen erscheint, der dann auch noch so bescheuert ist wie das Cover bumshässlich. Dino Jelusick hat sich bisher als Sänger von Animal Drive und beim Trans-Siberian Orchestra hervorgetan. Auf Dirty Shirley bringt es der gebürtige Kroate fertig, die Lynch Mob-Vokalisten Oni Logan und Robert Mason mit allen Phrasierungen in einer wundersamen Stimme zu vereinen und hier und da mit etwas Ray Gillen nachzupfeffern. Einen düsteren, infektiösen Song wie ›I Disappear‹ (mit toller Orgel) hätte The End: Machine noch erheblich aufwerten können, ebenso ›The Dying‹ mit seinen melodischen Klaviertupfern und dem Wuchtriff im Refrain.

›Last Man Standing‹? Wie gemacht für den Mob mit Oni Logan. ›The Voice Of A Soul‹ ist ein prachtvoller Heavy Blues, abermals mit Orgel, geschmackvollen Gitarren mit unbeschreiblichem Lynch-Ton. Das harte ›Escalator‹ ist durch seinen Alice In Chains-Refrain der Exot auf dieser Platte, ehe sich Lynch im abschließenden ›Grand Master‹ an einer hindustanischen Gitarre mit 21 Saiten austobt und mystisches Flair heraufbeschwört. Das hier ist unerwartet gehaltvoll — und richtig gut.

(8/10)
TEXT: DANIEL BÖHM

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