All My Shadows

Die dunklen Schatten in uns

Nach wenigen Sekunden mit Eerie Monsters ist sonnenklar, wer bei All My Shadows zusammengefunden hat: Mit Sänger Andy Kuntz, dem federführenden Gitarristen Stephan Lill und seinem Schlagzeug spielenden Bruder Andreas sind drei Fünftel von Vanden Plas involviert.

TEXT: DANIEL BÖHM |FOTO: Jannik Wagner

Vanden Plas sind und bleiben eine der wertvollsten Bands im internationalen Progressive Metal. Und wohl auch eine der produktivsten — auch wenn das nicht immer gleich ersichtlich ist. Vor zwei Jahren veröffentlichten sie in Illumination den zweiten Teil ihres Konzept-Opus The Ghost Xperiment, davor und danach waren die Pfälzer mit Rock-Oper-Projekten beschäftigt, die über mehrere Spielzeiten hinweg an verschiedenen Theaterspielstätten der Republik zu sehen waren.

Aufsehen erregte etwa vor drei Jahren die opulenten Crossover-Inszenierung des Everyman, einem von Sänger Andy Kuntz und seinen Vanden Plas-Kollegen Günter Werno (Keyboards) und Stephan Lill komponierten Bühnenstück, für das Kuntz in die Rolle des Tod schlüpfte. Zuletzt waren sie am Theater Münster mit ihrer Kreation Paradise Lost zu erleben, einem noch viel aufwändigeren Werk mit Band und Opernchor.

Das Schreiben für und das Spielen am Theater begleitet die Musiker bereits seit ihrer ersten gemeinsamen Platte Colour Temple (1994). Und nicht selten befruchtete es auch die Musik von Vanden Plas: Voller Drama und komplexer orchestraler Elemente adaptierte etwa Christ O (2006) die Geschichte des Grafen von Monte Christo und erweiterte sie um neue Zeit- und Story-Ebenen zu einem komplexen Konzept-Werk um das Grundthema Schizophrenie. Und auch die beiden 2014 und 2015 aufeinanderfolgenden Teile der Chronicles Of The Immortals: Netherworld sind unmittelbar mit ihrem Schaffen für die Theaterbühne verbunden.



Dass sich ihre Musik nicht immer eindeutig dem Theater oder aber der Band zuordnen lässt, hat Gitarrist Stephan Lill und Andy Kuntz dazu bewogen, in All My Shadows ein Nebenprojekt zu starten, dessen erstes Album im Februar 2023 erschienen ist. »Stephan hat einfach einen unglaublichen kompositorischen Output«, erklärt der Sänger.

»Als es mit Corona losging und noch niemand absehen konnte, wie sich diese Geschichte entwickeln würde, haben wir uns gedanklich mit einigen ganz unterschiedlichen Projekten befasst, die wir gerne umsetzen wollten. Zu seinen Songs hatte ich relativ schnell konkrete Gesangslinien und Bilder im Kopf — und sehr bald hat sich herauskristallisiert, dass wir diese neuen Stücke weder als Musik für ein Theater-Projekt noch als mögliches Material für ein neuen Album von Vanden Plas empfunden haben. Wir haben dann überlegt, ein All-Star-Projekt daraus zu machen und die Lieder von unterschiedlichen Sängerinnen und Sängern interpretieren zu lassen. Am Ende habe ich sie aber alle selbst gesungen.«



Songs wie ›Lifeforms‹, ›Silent Waters‹, ›A Boy Without A Name‹ klingen im Grunde nach einer stark gestrafften Ausgabe von Vanden Plas, bei der die kühlenden Keyboards von Markus Teske Klima und Atmosphäre zaubern. Auch ›Wolverinized‹, ›The Phantoms Of The Dawn‹ schlagen musikalisch in eine ähnliche Kerbe — das gefühlige ›Farewell‹ hingegen ruft durch den hinzugezogenen Chor unweigerlich Assoziationen zu den Rock-Oper-Projekten hervor.

Langt Lill strammer in die Saiten und beginnt zu solieren, verschiebt sich dieser Eindruck latent in Richtung Savatage respektive Trans-Siberian Orchestra. Die im Presseanschreiben unterstellte Artverwandtschaft zu Bands wie Ghost (die man womöglich ganz entfernt noch durchgehen lassen könnte), Stone Sour oder SOEN hingegen führen gewaltig auf den Holzweg.



Dass die neun sehr gelungenen Stücke auf Eerie Monsters lediglich durch einen losen Themenstrang miteinander verbunden sind, sei ein erheblicher Unterschied zur Arbeit mit Vanden Plas, stellt der Sänger mit der markanten Stimme und dem ebensolchen Intonationsstil klar. Aber ganz ohne Konzept kommen auch All My Shadows nicht aus.

»Die Songs sind kompakt und sollen zunächst einmal für sich stehen. Grundsätzlich geht es um die dunklen Schatten, die wir alle in uns haben, und um die Dämonen, die wir selbst herbeirufen, um mit diesen Schatten fertigzuwerden. Alptraum-Monster, die wir für uns erfinden, um uns selbst Angst zu machen und uns so vor schlimmerem Unheil zu beschützen. Ich erfinde in den Songs symbolisch ein sehr überzeichnetes Bild von allerhand Fabelwesen, die unsere Welt — oder vielmehr unsere innere Welt — aus ganz irdischen und alltäglichen Gründen angreifen.«


Mehr zu All My Shadows in ROCKS Nr. 93 (02/2023).
›Silent Waters‹ ist auf der CD-Beilage von ROCKS Nr. 92 (01/2023) zu hören.

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