Als Journey 1996 nach zehnjähriger Pause Trial By Fire veröffentlichen, scheint die Gruppe ihre erste existenzielle Krise überstanden zu haben. Mit Bassist Ross Valory und Schlagzeuger Steve Smith sind jene lang gedienten Mitglieder wieder an Bord, die Sänger Steve Perry während der Aufnahmen von Raised On Radio (1986) aus der Band gedrängt hatte. Journey gelang die viel beachtete Rückkehr: Die Scheibe setzte mehr als eine Million Einheiten ab, ›When You Love A Woman‹ steigt in die Top 20 der amerikanischen Singlecharts und erhält zudem eine Grammy-Nominierung.
Dunkle Wolken ziehen erst auf, als es um Konzertpläne geht: Von einer Bergwanderung auf Hawaii kehrt Perry mit starken Schmerzen zurück. Seine Ärzte diagnostizieren eine degenerative Knochenerkrankung, die nur mit einer Hüftoperation zu überwinden sei. Weil der Sänger stattdessen auf langwierige, alternative Heilmethoden setzt, werden seine Bandkollegen im Laufe der Monate zusehends unruhig. Zu einem operativen Eingriff will sich Perry nicht drängen lassen, es kommt zum Streit. »Wir wurden wie feierlich herausgeputzte Bräute vor dem Altar stehengelassen«, erinnert sich Jonathan Cain, der das Comeback seiner Band als keine Selbstverständlichkeit ansah — gerade nicht in einer Zeit, in der sich musikalische Klima so gewandelt hat und klassischer Rock in den Verkaufscharts der Vereinigten Staaten kaum noch eine Rolle spielte.
»Uns war klar, dass Steve nur mit einer neuen Hüfte wieder auf Tour gehen konnte, und unsere Meinung dazu war: Wenn man dieses Ziel wirklich erreichen will, ergreift man auch die nötigen Schritte. Wir haben viele wirklich gute Gelegenheiten verpasst, darunter einen Auftritt bei den American Music Awards, den Steve auch auf einem Barhocker sitzend hätte absolvieren können. Er hat alles abgeblockt.«
Während Steve Perry die Vorstellung entwickelt, Journey als eine Band weiterzuführen, die nur noch sporadisch, dann aber ausgiebig auf Konzertgastspielreise geht und seine Kollegen zur Tatenlosigkeit verdammt, nutzen Cain und Schon schließlich die Zeit für Solo-Projekte: Der Keyboarder veröffentlicht mit For A Lifetime ein Album mit Hochzeitsmusik, der Gitarrist bringt Piranha Blues heraus, an dem auch Bassist Ross Valory beteiligt ist. Als Perry eine geplante Operation erneut verschiebt, konfrontieren Journey ihren Sänger Anfang 1998 mit ihrem Beschluss, einen Nachfolger suchen zu wollen.»Natürlich war Steve entsetzt, enttäuscht und auch sehr aufgebracht. Er forderte uns auf, den Namen Journey nicht weiter verwenden, um unser hart erarbeitetes Lebenswerk nicht zu beschädigen«, erklärt Cain. »Dennoch hatte er genug Klasse, um sich uns nicht mit Anwälten und Prozessen in den Weg zu stellen.« Es kommt zur Trennung — und doch zu einer Einigung der Streitparteien, deren Details erst in jüngerer Vergangenheit bekannt werden und es Perry leichter machen, sich aus dem aktiven Musikgeschäft zu verabschieden: auch nach seinem Ausscheiden und dem Kontaktabbruch bleibt der an den Umsätzen der Band weiter beteiligt.
Wie wenig leichtfertig dieser Bruch erfolgte, wird umso deutlicher, wenn man sich ins Bewusstsein ruft, wie eng der Aufstieg und der Erfolg von Journey mit der charismatischen Stimme Perrys verbunden war. Dementsprechend schwer tut sich die Band dann auch, den vakanten Sängerposten neu zu besetzen. Im Gespräch ist zunächst Kevin Chalfant. Doch weil der Amerikaner aus dem Mittleren Westen bereits bei den 1990 gestarteten The Storm zu hören war, den auch Ross Valory, Gregg Rolie und Steve Smith angehörten (der Schlagzeuger zog es überdies vor, nach dem Zerwürfnis mit Perry nicht wieder zu Journey zurückkehren und mit Vital Information seine Fusion-Karriere weiterverfolgen zu wollen), erscheint er Cain und Schon als zu verbraucht. John West, der später als Sänger von Artension und Royal Hunt bekannt wird und seinerzeit als Ersatz für Ray Gillen jeweils bei Badlands und Sun Red Sun aktiv, wird zu einer Session eingeladen und überzeugt mit seiner Stimme. Nur zwischenmenschlich will es nicht passen. Sogar Queensrÿche-Frontmann Geoff Tate bietet sich an und schreibt auf der Stelle mit Jonathan Cain und Neal Schon das Stück ›Walkin' Away From The Edge‹, das 2002 auf der EP Red 13 zu hören sein wird. Aber auch Tate ist dem Gitarristen zufolge nicht der Richtige, um die alten AOR-Klassiker zu interpretieren.
Wiedergeburt mit Hausmeister
Den passenden Mann finden Journey eher zufällig. Joe Cefalu ist aus Brooklyn in die Bay Area gezogen, hat sich als Gitarrist schnell mit seinem prominenten Nachbarn Neal Schon angefreundet und empfiehlt diesem einen alten Kumpel von der Ostküste. Allerdings hatte sich Steve Augeri, der einige Jahre zuvor mit seiner Band Tall Stories kleinere Erfolge feiern durfte und kurzzeitig bei Tyketto (Shine, 1995), den Platz von Sänger Danny Vaughn einnahm aus dem Musikgeschäft zurückgezogen und ging mittlerweile einem Job als Wartungsmanager für eine Bekleidungskette nach, für die er sich in dreißig Läden um verstopfte Wasserrohre und kaputte Elektrik zu kümmern hat. Schon und Cain werden hellhörig: Sie kennen seine Stimme Tall Stories (1991) und halten ihn tatsächlich für eine reizvolle Alternative. Allerdings erbittet sich Augeri einige Wochen Vorlauf, um seiner Einladung nach Kalifornien nachzukommen — nach zwei Jahren Gesangspause musste er seine Stimmbänder erst wieder in Form bringen. Beim Vorstellungstermin sitzt alles: Nachdem einer gemeinsamen Proberunde mit ›Don't Stop Believin'‹, ›Faithfully‹ und ›Separate Ways (Worlds Apart)‹ hat der Lockenkopf den Job sicher in der Tasche.
Als neuen Schlagzeuger rekrutiert Neal Schon seinen alten Hardline-Kollegen Deen Castronovo, der nicht nur ein famoser Drummer ist, sondern auch selbst über eine frappierend an Steve Perry erinnernde Gesangsstimme verfügt. Mit ›Remember Me‹ steuern die runderneuerten Journey im Sommer 1998 einen Song zum Soundtrack des Kino-Blockbusters Armageddon bei und kehren auch endlich auf die Bühne zurück. »Das fühlt sich wie eine Wiedergeburt an«, zeigt sich Schon zum damaligen Zeitpunkt erleichtert. »Wir hätten keinen besseren Fang machen können, gerade was unser altes Material betrifft. Unsere Fans wollen die großen Hits hören und erkennen, und Steve Augeri bringt das einfach alles. Er ist jemand der die Band auf dem nächsten Album in neue Richtungen führen kann.«
Und das entsteht im März 2000 unter der Aufsicht des Produzenten Kevin Shirley. Nicht nur im Vergleich zu der vorherigen Songsammlung ist Arrival ein unerwartet stimmiges und starkes Album, das insgesamt härter und gitarrendominanter ausfällt und die bereits auf Trial By Fire vereinzelt zündelnden Van Halen-Momente fortführt (›Higher Place‹, ›All The Things‹, ›I Got A Reason‹). Obwohl das Album von vielen Anhängern äußerst positiv aufgenommen wird, zeigt sich Neal Schon im Rückblick nicht ganz zufrieden. »In den Jahren zuvor hatten wir die alleinige künstlerische Kontrolle über unsere Veröffentlichungen. Bei Arrival mussten wir aber unsere Songs bei der Plattenfirma einreichen und sie von A&R John Kalodner absegnen lassen. Dabei sind viele der rockigen Nummern, die wir aufgenommen haben, aussortiert worden und viel zu viele Balladen und ruhige Stücke auf der Scheibe gelandet.« Gerade sein gemeinsam mit Jack Blades (Night Ranger) verfasstes ›Higher Place‹ zählt zu den erhebenden Nummern voller Energie, und auch Neuzugang Augeri kann sich gleich bei sechs Liedern ins Songwriting einbringen.
Nichts mehr zu verlieren
In den folgenden Jahren spult die Band ein beachtliches Konzertpensum ab, was vor allem für Augeris Stimme eine Herausforderung darstellt. Obwohl der Sänger sich vor jeder Show stundenlang aufwärmt, keinen Tropfen Alkohol anrührt und sich wie ein Profisportler auf die inzwischen rund dreistündigen Shows vorbereitet, hält er dem Druck immer häufiger nicht stand. Als Resultat dieser Entwicklung beschließen Journey, auf dem nächsten Album Generations (2005) die Leadvocals auf alle Bandmitglieder aufzuteilen, um ihrem Sänger bei künftigen Shows mehr Pausen zu ermöglichen.
Noch während ihrer US-Tournee mit Def Leppard kommt es zum Eklat: Gerüchte über vorab eingesungene Bänder, zu denen Augeri nur noch die Lippen bewege, werden so laut, dass sie die Reißleine ziehen müssen. Zwar beteuert die Band, dass nichts aus der Konserve kam und lediglich Schlagzeuger Castronovo die Performance von Augeri verstärkt habe, schickt den Sänger aber nach einem Konzert in Raleigh, North Carolina nach Hause.
»Steve hatte schon seit ein paar Jahren immer wieder Probleme mit seiner Stimme. Als wir dann mit Def Leppard unterwegs waren, wurde es nach ein, zwei Wochen so schlimm, dass er fast keinen Ton mehr treffen konnte«, erinnert sich Neal Schon. »Die Ärzte haben ihm geraten, eine Pause einzulegen, was für uns natürlich zur Unzeit kam, da wir uns mitten in einer ausverkauften Tournee befanden. Unsere erste Reaktion war, alles abzubrechen und nach Hause zu gehen. Aber damit hätten wir wohl auch Def Leppard geschadet.«
Der Gitarrist überzeugt seine Bandkollegen, das Management und die Veranstalter von der Idee, mit seinem Soul Sirkus-Kumpel Jeff Scott Soto die Shows zu retten: Nur vier Tage nach Augeris Demission legt der frühere Malmsteen- und Talisman-Sänger die erste Show auf die Bretter. »Wir hatten nichts mehr zu verlieren, denn alles war besser als einfach das Handtuch zu werfen. Natürlich war Steve nicht angetan von der Idee, aber wir hatten keine große Wahl. Augeri hat uns dabei geholfen, die Band wieder an den Start zu bringen, und dafür werden wir ihm immer dankbar sein. Er hat alles für Journey gegeben, musste aber den Preis für unsere recht langen Shows zahlen. Ganz ehrlich, ich möchte nicht Sänger bei Journey sein. Ich kann die Saiten meines Instruments einfach wechseln, Steve konnte das nicht.«
Mit Soto bestreiten Journey im Frühjahr 2007 einen Europa-Abstecher, entlassen ihn aber anschließend aus ihren Diensten. Neal Schon hat das Gefühl, die richtige Besetzung für den Posten noch immer nicht gefunden zu haben. Er erhält kistenweise Bewerbungen mit perfekt produzierten Vorstellungs-CDs und Hochglanzbildern, will aber nach den bisherigen Erfahrungen nicht mehr den altbewährten Weg gehen. Anstatt die Kandidaten auszusieben und etliche davon zu gemeinsamen Proben einzuladen, setzt sich der Gitarrist tagelang an seinen Computer und klickt sich durch unzählige YouTube-Videos.
»Damals waren gerade die ersten Smartphones auf dem Markt und die Qualität der Aufnahmen ziemlich beschissen, aber zumindest wusste ich, dass alles live und echt war«, erläutert Schon seine Beweggründe. »Ich saß fast rund um die Uhr vor der Kiste und habe mich von einem Video zum nächsten geklickt, habe Männer und Frauen aus dem Rock- und R'n'B-Bereich abgecheckt und viel Talent gesehen. Mir war aber wichtig, dass ich jemanden im richtigen Kontext sehe, auf einer Bühne mit einer lauten Band, einem krachenden Schlagzeug, jemand der sich in dieser Kulisse behaupten und herausragende Qualität abliefern kann.«
Der Gitarrist ist schon kurz davor, entnervt aufzugeben, als er einige Videos der philippinischen Band The Zoo entdeckt. Bei einem Konzert in einem Bistro in Olongapo City singt sich deren Frontmann Arnel Pineda durch Klassiker von Survivor, Bad English, Led Zeppelin oder Heart und gibt mit ›Faithfully‹ und ›Open Arms‹ auch zwei Journey-Meilensteine in atemberaubender Perfektion zum Besten. »Ich war völlig verblüfft von dieser großen Stimme, diesem breit gefächerten Gesang, der aus diesem kleinen Kerl kam. Das war kein herkömmlicher Karaoke-Sänger, sondern jemand, der sich wie ein Chamäleon an die jeweiligen Anforderungen anpassen konnte. Mir war sofort klar: Das ist unser Mann — und wie man heute sieht, habe ich mich nicht getäuscht.«
Mehr zu Journey in ► ROCKS Nr. 89 (04/2022).