Rush

VÖ:

Das siebte Testament

Als Permanent Waves am 14. Januar 1980 erschient, war nicht bloß kalendarisch ein neues Jahrzehnt für Rush angebrochen. Auch die „Progressive“-Phase, die ihr Schaffen den Großteil der Siebziger hindurch bestimmte, war nach dem überaus komplexen Vorgänger Hemispheres beendet.

Immer wieder hatte das Trio darauf in seinem Zusammenspiel die Grenze zur puren Magie überschritten — und auch Gitarrist Alex Lifeson war auf seiner Suche nach einem signifikant eigenen Sound endlich fündig geworden. Die Zeit war gekommen für etwas Neues: Ihr siebtes Album ist eine beachtlich entspannt klingende Platte, auf der Bassist Geddy Lee seine Singstimme nicht mehr ganz so hoch ansetzt und so zu dem unaufgeregten Gesangsstil findet, für den er bis heute bekannt ist. Vor allem ist Permanent Waves eine Platte, die ihren Reiz aus überwiegend kompakten, entschlackten Liedern bezieht, die auf der Dualität von Synthesizer und Gitarre basieren.
Pop- und New-Wave-Anleihen durchströmen die mit Synthesizern angereicherten Art-Rock-Stücke und erweitern die auf dem Hardrock errichtete Musik von Rush um Dimensionen, die seinerzeit für helle Aufregung sorgen.

Sogar eine lupenreine Hitsingle ist für die Band drin: ›The Spirit Of Radio‹ ist ein Lied, das die Essenz von Rush in nicht einmal fünf Minuten zusammenfasst und dabei herrlich melodiebetont bleibt — wobei der Reggae-Break in der Mitte manchen Anhänger den Einfluss der beliebten New-Wave-Combo The Police heraushören lässt. Lediglich einmal wird die Neun-Minuten-Grenze überschritten: überladen wirken ›Natural Science‹ oder das zwei Minuten kürzere Düster-Epos ›Jacob’s Ladder‹ dadurch aber nicht, das geprägt ist von religiösen Metaphern — eine Fundgrube für Musikanalysten. Nach dem elegant arrangierten ›Entre Nous‹ und der berührenden Ballade ›Different Strings‹ führt das bombastische ›Natural Science‹ zunächst auf die falsche Fährte. Auf den sanften Beginn folgen grimmig-metallische Riffs, treibende Schlagzeugsalven und atemberaubende instrumentale Kabinettstücke.

Wie schon bei den Vorgängern 2112, A Farewell To Kings und Hemispheres unterscheidet sich auch diese Jubiläumsausgabe drastisch von früheren Editionen. Cover-Spezialist Hugh Syme hat das originale Hüllenmotiv neu interpretiert und die lasziv dreinblickende Dame durch einen männlichen Reporter ersetzt. Ein vierzigseitiges Hardcover-Buch liefert detaillierte und interessante Informationen zur Entstehungsgeschichte. Ein bislang unveröffentlichter Konzertmitschnitt der nachfolgenden Tour legt den Fokus auf Breitwand-Epen wie ›Xanadu‹, ›By-Tor And The Snow Dog‹ und der kompletten ›Cygnus X-1‹-Suite, die einen Großteil der Zwillingsplatten A Farewell To Kings und Hemispheres gefüllt hatten und danach nie mehr in ihrer Gesamtheit aufgeführt wurden.

Was fehlt, ist der obligatorische 5.1-Surround-Mix, bislang fester Bestandteil ihrer Wiederveröffentlichungen: Die Masterbänder sind aufgrund des Konkurses der Londoner Trident-Studios, in denen Permanent Waves abgemischt wurde, bis zum heutigen Tag unauffindbar geblieben.

(10/10)
TEXT: MARKUS BARO

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