Mission erfüllt: Mit Make It Count legt Pretty Maids-Stimme Ronnie Atkins nur ein Jahr nach dem ausgezeichneten Debüt sein zweites Solo-Werk vor. Was angesichts der Krankenakte des Dänen keine Selbstverständlichkeit darstellt.
»Mir geht’s gut, und das schon seit einer ganzen Weile«, beginnt der 57-Jährige ein Gespräch, bei dem er seine schwere Lungenkrebserkrankung offen thematisiert. »Dieser Sache kann ich sowieso nicht entkommen, sie ist rund um die Uhr in meinem Bewusstsein. Ob ich die Zeitung aufschlage oder die Glotze anmache: Immer wird es irgendwo eine Meldung über Menschen geben, die an Krebs gestorben sind. Wenn ich zum Gemüseladen gehe oder beim Bäcker anstehe, treffe ich auf Leute, die höflich und respektvoll nach meinem Befinden fragen und mich dadurch mit meiner Situation konfrontieren. Das ist auch okay. Inzwischen gehe ich viel entspannter damit um. Ich versuche, mir immer neue Ziele zu setzen und diese möglichst zu erreichen, was mir mentale Stärke verleiht. Zusammen mit der Immuntherapie, die hoffentlich eines Tages dazu führen wird, dass Krebspatienten mit dieser Erkrankung leben können, hat mich diese Vorgehensweise bislang am Leben gehalten.«
Wie schon beim Vorgänger hat sich Ronnie Atkins dafür entschieden, in seinen Texten keine Flucht aus seiner oft bedrückenden Realität zu unternehmen, sondern sich mit seinen Gefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen. »Natürlich trage ich mein Herz oft auf der Zunge, was nicht immer einfach ist. Diese Art der Selbstreflexion ist emotional und häufig melancholisch. In meiner schwierigsten Zeit ist ›Carry Me Over‹ entstanden, meine erste Solo-Nummer überhaupt, die ich aber erst vor ein paar Monaten auf 4 More Shots (The Acoustics) veröffentlicht habe, weil sie von der Stimmung her nicht auf das Debüt gepasst hat. Als ich den Song meiner Frau vorgespielt habe, kamen uns beiden die Tränen, weil wir uns sofort wieder an diesen schmerzhaften Abschnitt erinnert fühlten, an dem ich wirklich am Boden lag. Vor meiner Erkrankung habe ich mir nie große Gedanken um die Vergänglichkeit des Lebens gemacht, und vielleicht sollte das auch so sein. Aber ›Make It Count‹ befasst sich damit, dass es jeden von uns jederzeit treffen kann, egal ob es sich um Krebs, einen Herzinfarkt oder einen Unfall handelt. Wir sollten unsere Zeit gut nutzen!«
Mit ›Rising Tide‹ und ›Blood Cries Out‹ hat Atkins diesmal gleich zwei Stücke so vertont, dass sie bestens ins jüngere Repertoire seiner Hauptband passen würden. Seinen dortigen Kompagnon vermisst er in kreativer Hinsicht nur bedingt. »Ich verstehe, dass Ken Hammer als Gitarrist einen anderen Blickwinkel auf meine Songs hat und es ihn langweilt, wenn es nicht genug Raum für seine Riffs und Leads gibt. Keine Frage auch, dass wir uns durch unsere ewigen Diskussionen gegenseitig zu hervorragenden Ergebnissen angespornt haben. Es kann also durchaus hilfreich sein, wenn dir beim Songwriting jemand auf den Sack geht«, lacht Atkins, der nach vier Jahrzehnten im Geschäft ein gutes Gespür für Ohrwürmer entwickelt hat.
»Wenn ich eine Gitarre in die Hand nehme oder mich ans Klavier setze und eine schöne Melodie finde, weiß ich sofort, ob daraus eine gute Nummer werden kann oder nicht. Das ist die Basis eines Songs, und gemeinsam mit meinem Gitarristen, Keyboarder und Produzenten Chris Laney erörtere ich dann, in welcher Form wir das Lied ausarbeiten. Egal, wie die Instrumentierung ausfällt — die eingängige Melodie bleibt immer dieselbe. Und weil ich schon immer ein großes Faible für gute Popsongs habe, muss ich bei meinen eigenen Scheiben weniger Kompromisse eingehen.«
Beim Titeltrack, der das Album auf ungewöhnliche Art abschließt, konnte sich Ronnie Atkins die Unterstützung eines Mannes sichern, dessen Arbeit ihn schon in jungen Jahren begleitet hat. »Die Melodie von ›Make It Count‹ klimpere ich schon seit einer halben Ewigkeit immer wieder am Keyboard, konnte sie aber nie für einen Song nutzen. Chris und ich kamen jetzt auf die Idee, die Harmonien etwas an Abba anzulehnen — schließlich sind wir beide große Fans. Weil Chris schon im Polar Studio gearbeitet hat und einige der Abba-Musiker kennt, konnte er Lasse Wellander dazu bringen, ein Solo für die Nummer beizusteuern. Lasse ist seit 1975 auf jedem Abba-Album zu hören, und schon im Alter von elf oder zwölf Jahren habe ich sein Solo bei ›Knowing Me, Knowing You‹ geliebt. Ihn jetzt bei einem meiner Songs zu haben, ist eine echte Ehre für mich!«
Obwohl ›The Tracks We Leave Behind‹ laut Atkins in der Zeit des westlichen Abzugs aus Afghanistan entstanden ist und sich um dieses Thema dreht, lässt sich der Titel auch auf die Spuren von vier Jahrzehnten Pretty Maids anwenden. Gleich zwei aktuelle Bücher beleuchten den Werdegang der Hardrocker, zudem wurde im November eine Ausstellung im Museum ihrer Heimatstadt Horsens eröffnet. »Es war gar nicht geplant, dass beide Bücher um den gleichen Dreh erscheinen. Ozzie Adenborgs We Came To Rock — The Official Pretty Maids Journals war schon seit langem in der Mache. Sie ist eine leidenschaftliche Anhängerin und hat in jahrelanger Detailarbeit alle Schnipsel über uns zusammengetragen und Gespräche mit so ziemlich allen aktuellen und ehemaligen Mitgliedern der Band und Leuten aus unserem Umfeld geführt, während das dänische 40 år med Pretty Maids von Jan Eriksen gezielt zu unserem Jubiläum aus aktuellen Interviews mit Ken und mir entstanden ist. Und wer hätte bitte je gedacht, dass wir mal im Museum landen? Als verstaubte Größe aus einem vergangenen Jahrhundert fühle ich mich noch nicht«, kommentiert der Sänger lachend, der diese Würdigung gleichwohl als große Ehre betrachtet.
Dass Ronnie Atkins und Gitarrist Ken Hammer das Jubiläum mit einigen gemeinsamen TV-Auftritten und Buchpräsentationen begangen haben, wurde allgemein als Zeichen der Entspannung zwischen den Bandköpfen gedeutet — eine zu optimistische Interpretation, wie der Sänger kommentiert.
»Es ist kein Geheimnis, dass es derzeit Dinge gibt, die zwischen Ken und mir stehen«, bekennt Atkins, ohne die geschäftlichen Differenzen im Hintergrund näher zu erläutern. »Das ändert aber nichts daran, dass wir eine gemeinsame Geschichte haben und uns immer gut verstehen, wenn wir uns treffen. Im Rahmen dieser Interviews hat es sofort wieder Klick gemacht, wir hatten eine wirklich tolle Zeit mit viel Lachen über alte Geschichten. Aber über unsere Probleme haben wir nicht gesprochen. Die Band hat sich seit September 2019 nicht mehr versammelt. Ich bin wohl der einzige von uns, der seither mit jedem Mitglied in direktem Kontakt stand. Für mich ist klar, dass wir nur in derselben Besetzung weitermachen können, die beim letzten Konzert auf der Bühne stand, ansonsten bin ich nicht interessiert. Dieses Problem können nur Ken und ich lösen, und bis dahin liegt eine weitere Zusammenarbeit auf Eis. Aber um eins klarzustellen: Mir liegt sehr viel daran, noch weitere Auftritte mit den Pretty Maids zu spielen, vielleicht bei ein paar größeren Festivals aufzutreten, um uns unseren Fans noch mal zu präsentieren. Sag niemals nie! Nur kann ich an diesem Punkt meines Lebens keinen Bullshit mehr ertragen und mache lieber ein anderes Projekt, als mich zu ärgern.«