Marillion

Erhabenes in dunklen Stunden

Seit gut 33 Jahren beackern die Briten nun mit Sänger Steve Hogarth ihr eigenes progressives Paralleluniversum. Zurückgeschaut auf selige Fish-Zeiten haben sie jedoch nie. Auf lange Sicht hat sich diese Konsequenz ausgezahlt. Mit ihrem nicht eben leichtgängigen Sound füllen Marillion heute auch geräumige Hallen.

TEXT: MARKUS BARO |FOTO: Anne Marie Forker

Kurz vor Beginn ihres Konzerts in Frankfurt wird gebeten, Handyaufnahmen zu unterlassen, ehe das komplexe und in seiner Gesamtheit aufgeführte aktuelle Album An Hour Before It’s Dark die volle Konzentration von Fans wie Musikern erfordert. »Ihr verzeiht uns einfach alles«, lautet dazu die schelmische Begründung des 66-jährigen Frontmanns.

Tatsächlich gewinnen die diffizilen musikalischen Texturen etwa des verschachtelten ›Sierra Leone‹ oder auch das ungewöhnlich harte ›Murder Machines‹ live dramatisch an Dynamik. Es ist ein Gesamtkunstwerk aus introvertiert-pastoralen Klängen und fließenden Lichtkaskaden, das sich gemächlich entfaltet und die Begeisterung der fünftausend Besucher merklich schnell zunehmen lässt.

Ein passenderer Start als das erhaben-sinfonische ›Be Hard On Yourself‹ ist schwer vorstellbar, und schon in der Leonard Cohen-Hommage ›The Crow And The Nightingale‹ ruft der wunderschön pur und unverfälscht klingende Gitarrenton von Steve Rothery lautstarke stehende Ovationen hervor, die bis zum Ende der Vorstellung nicht mehr abreißen werden. Das melodramatische Corona-Opus ›Care‹, musikalisch zwischen Brave (1994) und dem 2016 erschienenen FEAR angesiedelt und von Tastenmann Mark Kelly mit sparsamen Klavier- und Synthie-Klängen überzogen, symbolisiert auch den Durchhaltewillen der von Krisen gebeutelten Truppe, die beharrlich ihren Weg gegangen ist.

Percussionist Lewis Jardim ist im Studio wie auf der Bühne ein großer Gewinn und macht seine Anwesenheit besonders im pulsierenden ›Quartz‹ spürbar, ein Lied, das wie das selten gespielte ›When I Meet God‹ jener Phase entstammt, in der Marillion ihren Neo-Prog-Sound mit Modern-Rock-Elementen anreicherten und damit viele ihrer alten Anhänger endgültig verprellten.

In Frankfurt überrascht aber zunächst das schwelgerische ›Estonia‹ als Einstieg in die zweite Konzerthälfte, darüber hinaus stehen in ›Wave‹, ›Mad‹ und ›The Great Escape‹ gleich drei Brave-Preziosen sowie das packende ›Afraid Of Sunlight‹ auf dem Programm. Als Zugabe kündigt Hogarth ein Lied an, das man »nur sehr selten von uns hören wird«. Und das die Band wohl sehr viel Überwindung kostet. Statt des sonst üblichen ›Sugar Mice‹ reißt ›Garden Party‹, ein Vorzeige-Klassiker der Fish-Ära, die gesamte Jahrhunderthalle endgültig von den Sitzen.


Dieser Text stammt aus ROCKS Nr. 92 (01/2023).

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