Greg Prato

King’s X — The Oral History

Jawbone
VÖ: 2019

Doppelt beleuchtet

Immer schon galten King’s X als eine ganz besonders ausgefallene Band. Dass ihr in Doug Pinnick ein schwarzer Musiker vorstand, war in den achtziger Jahren längst keine Alltäglichkeit. Vor allem aber klangen sie grundlegend anders als alles, was der Heavy Rock rechts und links von ihnen sonst zu bieten hatte: Ihr intelligenter Groove-Rock, in dem Rush, Jimi Hendrix, Beatles-Harmoniegesänge und jede Menge Soul und Gospel originell vor sich hin flackern, strahlte schon auf ihrem Debüt Out Of The Silent Planet (1988) in die unterschiedlichsten Richtungen aus — seither findet die Musik des texanischen Power-Trios im Hardrock ebensolchen Anklang und glühende Verehrer wie in den Lagern des Alternative- und des Progressive Rock.

In den letzten anderthalb Dekaden ist es aus ganz unterschiedlichen Gründen stiller geworden um den singenden Bass-Hünen Pinnick, den gleichfalls singenden Gitarristen Ty Tabor und Schlagzeuger Jerry Gaskill. Und doch ließ sich gerade in dieser Zeit der Eindruck gewinnen, die Band sei in ihrem Stellenwert und der ihr allgemein entgegengebrachten Wertschätzung um einiges gewachsen. Hoffnungsvolle Gedanken an den großen Karrieredurchbruch verschwendet das krisenerfahrene Ensemble deshalb allerdings keine: Ihre Anhängerschaft ist stets ein vergleichsweise kleiner, dafür umso anhänglicherer Liebhaberzirkel geblieben, der sich nach der autorisierten Pinnick-Biografie What You Make It — The Authorized Biography Of Doug Pinnick nun über das zweite King’s X-Buch innerhalb eines Jahres freuen darf.

Aufmachung und Gestaltung (Umschlag, Papier, Satz) lassen King’s X — The Oral History im direkten Vergleich um einiges hochwertiger und professioneller wirken, in dem Autor Greg Prato die Geschichte und den Werdegang der Band von den Musikern, Geschäftspartnern und anderen bekannten Beobachtern als opulente Zitatsammlung komplett selbst erzählen lässt. Hierin unterscheidet sich sein Buch am offensichtlichsten von What You Make It, das Chris Smith in Fließtextform verfasste, wobei er seine zusammengetragenen O-Töne in einen fließenden Geschichtskontext mit vielen recherchierten Zusatzinformationen einbettet. Nicht nur die Herkunft des heute 69-jährigen Pinnick, sein schwieriges familiäres Umfeld und seine Entwicklung als Persönlichkeit (als schwuler Schwarzer, spiritueller Mensch, der im Laufe seines Lebens immer stärker auf Abstand geht zu der Form der streng institutionalisierten Religion, mit der er im Haus seiner intriganten, gefühlskalten Großmutter aufwuchs) wird so um einiges plastischer, aufschlussreicher und kompletter dargestellt. Auch die frühe Verbindung mit der christlichen Musikszene Amerikas, von der sich die Band sehr schnell sehr deutlich distanzierte, findet bei Smith eine detailreichere und schlüssigere Anbindung als bei Prato.

Ab dem Umzug von Pinnick und Gaskill von Springfield nach Houston, wo sie zum ersten Mal auf Ty Tabor treffen, nimmt sein Buch Fahrt auf: King’s X — The Oral History rekapituliert die Zusammenarbeit mit dem erfolgreichen UA-Musiker Morgan Cryar ebenso kurzweilig wie den eigentlichen Band-Start unter dem Namen Sneak Preview, die in kleiner Auflage eine LP herausbrachten. Auch das Herantasten an ihren sehr eigenen Sound und die Rolle von Sam Taylor, der als Manager und Produzent die bis 1992 andauernde „klassische“ Phase seiner Schützlinge mitprägte, liest sich kurzweilig. Von hier aus arbeitet sich Prato von Platte zu Platte vor — und so besteht sein Buch bis zum dritten Album Faith Hope Love (1990) schwerpunktmäßig aus Informationen, Anekdoten und Berichten zu und über die Aufnahmen und die Entstehung der einzelnen Lieder, die systematisch abgearbeitet werden.

Das ist alles andere als unspannend und animiert zum Wiederentdecken und Parallelhören dieser wunderbaren Scheiben. Über 300 Seiten vermag Prato damit aber nicht uneingeschränkt zu tragen: Ohne lenkende Einschübe, Anmoderationen, Reflexionen und überleitende Erzählungen verliert sein Buch zuweilen etwas an spannender Dichte, zumal in den langen Zitatblöcken immer wieder Personennamen fallen, die erst im Zuge der weiteren Lektüre von den Protagonisten Stück für Stück aufgeschlüsselt und aus dem Zusammenhang heraus erklärt werden. Umso dankbarer verschlingt der Leser die Ausführungen der Texaner zu den sagenumwobenen Ereignissen der Skandal-Tournee mit AC/DC, die King’s X 1991 in Deutschland mit einer Woge blanken Hasses und handgreiflicher Ablehnung konfrontierte, die sie später zu ›Lost In Germany‹ (King’s X, 1992) inspirierte. Dabei ist ihr Verhältnis zu den Vorkommnissen bewundernswert ambivalent und keinesfalls so traumatisch, wie diese seither immer wieder dargestellt und aufgearbeitet werden — zumindest scheinen Pinnick, Tabor und Gaskill in ihren sehr persönlichen und ausführlichen Darstellungen bemüht zu sein, sich selbst nicht stärker in eine Opferrolle hineinzureden als unbedingt nötig. So ausführlich und ungebremst dürfte die Band in ihrer gesamten Laufbahn noch nicht zu Wort gekommen sein: Schon alleine deshalb ist King’s X — The Oral History eine ausgesprochen feine Sache.

Beide Bücher ergänzen sich wunderbar, wobei Pratos O-Ton-Sammlung inhaltlich ein gutes Stück weiter geht als What You Make It — The Authorized Biography Of Doug Pinnick und neben Kapiteln über sämtliche der zwölf bis heute erschienen Studio-Werke auch eins über das King’s X-Label Moltken Music enthält und sämtliche Solo- und Projekt-Alben der drei Musiker mit einschließt.

Keine Wertung
TEXT: DANIEL BÖHM

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